9.21.2008

Interview mit Antonio Farinaci über Angriffe


RADIKAL LEBEN

Rainer Werner Fassbinder, Bernward Vesper und die Sängerin Nico sind die Protagonisten der biographischen Romantrilogie „Angriffe“ des französischen Schriftstellers Alban Lefranc
São Paulo, 26.7.2008
von Antonio Farinaci
(Übersetzung ins Deutsche: Katja Roloff)

Im Oktober erscheint in Deutschland eine Roman-Trilogie über drei Ikonen der jüngsten deutschen Geschichte, vor dem Hintergrund der politischen Ereignisse seit Mitte der sechziger Jahre, insbesondere der 68er-Bewegung in Westdeutschland.

Die extremen Lebensentwürfe des Filmemachers Rainer Werner Fassbinder, des Schriftstellers Bernward Vesper und der Sängerin Nico stehen im Mittelpunkt der Roman-Trilogie des französischen Schriftstellers Alban Lefranc, 33, die unter dem Titel „Angriffe“ in Deutschland erscheinen wird. Zwei dieser Texte, „Attaques sur le chemin le soir dans la neige“ („Angriffe auf dem Weg im Schnee am Abend“) über Fassbinder, und „Des foules, des bouches, des armes“ (in der dt. Fassung „Münder und Waffen“) über Bernward Vesper, sind bereits in Frankreich erschienen.

„Jede dieser drei Figuren sucht nach einer Form (Film, Literatur, Musik), um an der Zeit, in der sie leben, und an dem Abscheu für diese Zeit nicht zugrunde zu gehen“, fasst der Autor in einem Interview mit Trópico in Berlin, wo er zurzeit lebt, zusammen.

Fassbinder und Vesper fühlten sich als Außenseiter: Der Filmemacher, weil ihm der Weg in die deutsche Filmwelt erschwert wurde, der Schriftsteller aufgrund seiner Familiengeschichte: er war Sohn des NS-Dichters Will Vesper. Nico beschritt den entgegengesetzten Weg, vom Jet Set in die Subkultur.

Die Nachkriegszeit, der Wiederaufbau auf den „Ruinen des Nationalsozialismus und seine Lügen“ haben die drei unterschiedlichen Figuren entscheidend geprägt. „Das erdrückende gesellschaftliche Klima und die moralische Ordnung, die sich in Deutschland seit Adenauer etabliert hat und die später, Ende der sechziger Jahre (zumindest scheinbar) umgestoßen wird, sind ihnen unerträglich“, so Lefranc. „Für alle drei ist Kunst eine existenzielle Notwendigkeit“.

Für die Romane griff Lefranc auf biographisches Material der Figuren sowie Filme und Bücher zurück. Ebenso wichtig ist ihm jedoch die Freiheit der Fiktion. „In manchen Fällen entferne ich mich sehr von den realen Fakten“, erklärt Lefranc, „und erfinde Umstände und Momente, die mir aussagekräftiger erscheinen, wirklicher als das, was für real gehalten wird“.

***

Alban Lefranc im Interview mit Trópico


Welche Verbindung besteht zwischen den drei Figuren Fassbinder, Vesper und Nico?

Alban Lefranc: Alle drei mussten sich von den Ruinen des Nationalsozialismus und den Lügen des Wiederaufbaus befreien. Hinter ihnen liegt eine unvorstellbare Katastrophe, ein grauenvolles Verbrechen, vor ihnen der Optimismus des Wirtschaftswunders und der Antikommunismus als neue Staatsreligion.
Rossellinis Deutschland im Jahre Null ist vielleicht der Film, der diese Katastrophe, die Verzweiflung, die am Anfang lag, am besten wiedergibt.
Alle drei haben eine geradezu selbstmörderische Lebenswut. Sie suchen nach einer Form (Film, Literatur, Musik), die es ihnen ermöglicht, an dem Abscheu für die Zeit, in der sie leben, nicht zugrunde zu gehen.
Für alle drei ist Kunst eine existenzielle Notwendigkeit.
Das erstickende gesellschaftliche Klima und die moralische Ordnung, die sich in Deutschland seit Adenauer etabliert hat und die später, Ende der sechziger Jahre (zumindest scheinbar) umgestoßen wird, ist ihnen unerträglich.
Alle drei teilen die Anliegen der Studentenproteste und unterstützen, zumindest zu Anfang, den bewaffneten Widerstand.
(Man kann die Ereignisse dieser Zeit nicht nachvollziehen, wenn man außen vor lässt, dass unter Intellektuellen und Studenten ein gewisser Konsens zur Befürwortung des bewaffneten Widerstands herrschte: Der Gewalt, die der Staat anwendete, musste man mit Gewalt begegnen.)
Die drei Figuren sind auf gewisse Weise von Enttäuschungen geprägt. Wie äußern sich ihre Enttäuschungen, ihre Verzweiflung?

Ja, Enttäuschungen spielen eine Rolle.
Doch keiner der drei schleppt diese Enttäuschungen mit sich herum, keiner von ihnen ist anfällig für Ressentiments. Die Enttäuschung ist für sie nur ein Ausgangspunkt. Die Frage ist vielmehr: Was fängt man seinen Hemmnissen, seinen Grenzen an?
Bei Fassbinder und Vesper auf der einen und Nico auf der anderen Seite verläuft die damit verbundene Entwicklung sehr unterschiedlich.
Fassbinder und Vesper sind zunächst Außenseiter. Der Drang, anerkannt zu sein, in ihr künstlerisches Milieu aufgenommen zu werden, gibt ihnen eine enorme Kraft. Ihr Leben lang (zwei kurze Leben: RWF starb mit 37, Vesper mit 32) verfolgt sie das Gefühl, außen vor zu bleiben, der Komplex des Provinziellen gegenüber dem Eleganten, des Fremden gegenüber dem Einheimischen. Dieser Komplex vernichtet sie nicht, im Gegenteil, für RWF ist er ein äußert produktiver Antrieb. Selbst, als er bereits anerkannt ist, bleibt er unverdaulich, zu skandalös, sowohl wegen seines Lebenswandels, um den er keinen Hehl macht (zu schwul, drogensüchtig …) als auch wegen seiner Kunst (zu radikal).
Nico wird von einem Tag auf den anderen von diesem Milieu aufgesogen (Jet Set, Geld, berühmte Künstler), noch bevor sie überhaupt die Zeit hat, den Zutritt in diese Welt zu begehren. Schließlich setzt sie alles daran, daraus auszubrechen und alles, was sie hat, zu verschleudern.
In seinen Tagebüchern schrieb Kafka: „Literatur ist Ansturm gegen die Grenze“. Diese grundlegende Beziehung zur Grenze haben alle drei Figuren gemeinsam. Sie sind sich der Bedeutung und der Bedingtheiten von Grenzen sehr bewusst. Zu welcher Gruppe gehöre ich oder nicht? Wer entscheidet, wer ich bin? Wer „macht“ mich zum Künstler? Welche Rolle spielen die Journalisten und wie gehe ich damit um?

Wie kam es zu dem Titel der Trilogie, „Angriffe“?

Alle drei Figuren haben eine von Gewalt bestimmte Haltung zur Welt. Die Welt, die Kunst bedeuten für sie Krieg. Die Metapher des Krieges ist bei ihnen allgegenwärtig. Gleichzeitig befinden wir uns auch in der Zeit des Koreakriegs, des Vietnamkriegs (50er/60er), der Befreiungskriege der Kolonien, und später der Auseinandersetzungen zwischen Studenten und Staatsgewalt, der RAF-Attentate in Deutschland.
Angriffe: Das ist die Atmosphäre der Zeit.

Wie kam es nach den Romanen über Fassbinder und Vesper zu Nico als dritte Figur der Trilogie?

Nico kam als notwendiger, vervollständigender Komplex hinzu. Erst Film, dann Literatur, schließlich die Musik.

Darüber hinaus hatte ich den Wunsch, als mich als Mann in einer Fiktion mit der Biographie einer Frau auseinanderzusetzen (und zwar spezifisch in der Form der biographie imaginaire, der fiktiven Biographie, in der man eine Figur „kolonisiert“, es wagt, sie sprechen zu lassen, die biographischen Leerstellen zu füllen, sich in ihr Begehren hineinzuversetzen).

In allen drei Romanen ist auch die Sexualität als Fluchtweg oder Weg in den Tod allgegenwärtig; nach einem möglichen homosexuellem Begehren (RWF), einem möglichen heterosexuellem Begehren (Vesper), ein mögliches Begehren (oder das Nicht-Begehren unter Drogen) einer Frau. (ganz ausdrücklich EIN mögliches. Ich möchte mir selbstverständlich keine Verallgemeinerungen anmaßen.) Die Weiblichkeit mit all ihren Implikationen stellte für Nico auch ein Hindernis dar, sich in einem stark männerdominierten Milieu, in der Musikbranche, im Film, durchzusetzen; sie wurde auf die Rolle der schönen, stummen Frau reduziert, wurde nicht ernstgenommen. Viele Artikel über sie sind äußerst abwertend, gestehen ihr ausschließlich die Rolle der Ikone und Muse männlicher Künstler zu.

Nico hat einen großen Teil ihrer Karriere im Ausland verbracht. Jedoch hat sie weiterhin eine enge, explosive, unbedingte Beziehung zu Deutschland und der deutschen Sprache. Als sie in Deutschland auftritt, widmet sie ihre Songs Andreas Baader, so zum Beispiel die verbotene erste Strophe des Deutschlandlieds.

Was bewegt Sie als französischer Autor dazu, sich in Ihren Romanen mit der deutschen Geschichte auseinanderzusetzen?

Ich habe fast die ganzen letzten zehn Jahre lang in Deutschland gelebt, in Bochum, Dresden, Bonn und Berlin. Das Land kenne ich mittlerweile ganz gut. Ich glaube, dass ich als Ausländer, mit einem fremden Blick möglicherweise freier über diese Geschichte sprechen kann. Ich fasse sie nicht mit Glacéhandschuhen an. Und ich habe ein abstrakteres Verhältnis zu dieser Geschichte, ich habe keine Verwandten oder Freunde, die diese Zeit erlebt haben: Das kann paradoxerweise eine Chance sein.

Alles begann mit RWFs Filmen. Seine großartige Episode in Deutschland im Herbst war für mich der Schlüssel zu dieser Zeit: Die Verbindung von Körper und Politik, Privatem und Öffentlichem, die Darstellung der Affekte, die sehr subjektive Sicht, die Wut als Rettung …

Welche Quellen haben Sie für die Darstellung der Figuren in Ihren Romanen verwendet? Und inwieweit bleiben sie den realen Fakten treu?

Ich habe auf die bereits vorhandenen Biographien zurückgegriffen, aber auch auf Filme (Pierrot le fou, z.B., oder Badlands für Baader, When we were kings für RWF, Last Days für Nico) und Schicksale von Persönlichkeiten, bei denen es in meinen Augen einen Zusammenhang zu diesen Biographien gab, wie z.B. Mohammed Ali.
Meine Texte sind nicht besonders erzählerisch. Ich suche Bilder, Farben, Atmosphären, in denen etwas von der Dichte dieser Leben erfahrbar wird.
Zum Teil entferne ich mich sehr von den realen Fakten. Ich erfinde durchaus Umstände und Momente, die mir aussagekräftiger erscheinen, wirklicher als das, was für real gehalten wird.
Ich glaube, dass es vor allem wichtig ist, die Lücken eines Lebens wiederzugeben, die scheinbar harmlosen Details; und dass die ins Auge springenden Fakten (z.B. Nico tritt in La Dolce Vita auf) kaum Bedeutung haben. Sie sind im Grunde unbedeutende Fakten, auf die man eine reale Person festnagelt und die sie als solche beinahe vernichten. Diese Fakten werden zu Klischees, eine kleine Begleitmelodie (ach ja, Nico, Velvet Underground, ja ja …), die letztlich nichts aussagt.
Besonders augenfällig ist das bei Nico, die ständig neben andere, gewichtigere Berühmtheiten gestellt wird, Lou Reed, Warhol, Fellini. Ich wollte die anderen Facetten einfangen.

Das Anliegen, ein Ganzes zu fassen, das komplexer und geheimnisvoller ist als bloße Fakten, hat Rousseau ganz wunderbar auf den Punkt gebracht:
„Klimate, Jahreszeiten, Klänge, Farben, Dunkelheit, Licht, Elemente, Speisen, Geräusche, Stille, Bewegung, Ruhe, alles wirkt auf unsere Maschine ein und somit auch auf unsere Seele“.


aus: Trópico
http://p.php.uol.com.br/tropico/html/textos/2994,2.shl








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